Autofahrer, die auf schnee- und eisglatten Straßen mit Sommerreifen unterwegs sind, dürfen nicht generell mit einem Bußgeld bestraft werden. Eine entsprechende Auslegung der Straßenverkehrsordnung ist vielmehr verfassungswidrig. Das hat das Oberlandesgericht Oldenburg mit Beschluss vom 9. Juli 2010 entschieden (Az.: 2 SsRs 220/09).
Der Kläger war im November 2008 mit seinem Pkw auf einer innerörtlichen Eisfläche ins Rutschen gekommen und in eine Schaufensterscheibe geschliddert. Sein Fahrzeug war zu diesem Zeitpunkt mit so gut wie neuen Sommerreifen ausgestattet.
Das Amtsgericht Osnabrück verurteilte ihn wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit in Tateinheit mit der Benutzung einer nicht den Witterungsverhältnissen angepassten und somit ungeeigneten Bereifung zur Zahlung eines Bußgeldes.
Doch insbesondere den zweiten Vorwurf wollte der Kläger nicht auf sich sitzen lassen. Nach seiner Meinung hätte sich der Unfall nämlich auch bei der Benutzung von Winterreifen ereignet. „Es gebe nämlich keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass bei winterlichen Straßenverhältnissen Winterreifen stets die bessere Wahl seien“, so der Kläger in der schriftlichen Begründung seiner gegen das Amtsgerichts-Urteil eingereichten Rechtsbeschwerde.
Unklare Formulierung
Die Vorschrift zur Benutzung einer geeigneten Bereifung in § 2 Absatz 3a StVO hielt der Kläger im Übrigen für zu ungenau. Denn dort heißt es: „Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung den Wetterverhältnissen anzupassen. Hierzu gehören insbesondere eine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel in der Scheibenwaschanlage.“
Auch die Richter des Oldenburger Oberlandesgerichts konnte die Formulierung nicht überzeugen. Sie hielten daher die Verhängung eines Bußgeldes wegen der Benutzung der Sommerreifen für ungerechtfertigt und gaben der Berufung gegen das Urteil der Vorinstanz zumindest teilweise statt.
Dabei fuhren die Richter großes Geschütz auf. Denn sie halten die Bestimmungen in § 2 Absatz 3a StVO für verfassungswidrig.
Keine generelle Winterreifenpflicht
Nach Ansicht des Gerichts ist der Gesetzgeber gemäß Artikel 103 Absatz 2 GG dazu verpflichtet, die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit beziehungsweise eine Ordnungswidrigkeit so konkret zu umschreiben, dass deren Anwendungsbereich für den Einzelnen erkennbar ist oder sich durch Auslegung ermitteln lässt.
Das ist bei der entsprechenden Vorschrift der Straßenverkehrsordnung jedoch nicht der Fall. „Denn weder gesetzlichen noch technischen Vorschriften ist zu entnehmen, welche Eigenschaften Reifen für bestimmte Wetterverhältnisse haben müssen“, so das Gericht.
Das gilt nach Auffassung der Richter auch für Winterreifen. Denn der Gesetzgeber hat in der StVO keine generelle Winterreifenpflicht für die Wintermonate geregelt. Da Sommerreifen in der Regel nicht auf ihre Tauglichkeit für Schnee- und Eisglätte getestet werden, ist für einen Autofahrer nicht ausreichend erkennbar, welche Reifen als ungeeignet bei winterlichen Straßenverhältnissen anzusehen sind.
Kritik an Gesetzgeber
Wie schwer es für Autofahrer ist, zu einer eindeutigen Einschätzung zu gelangen, ergibt sich nach Meinung des Gerichts unter anderem aus einem Test aus dem Jahr 2005. Denn seinerzeit erwiesen sich gleich zwei Sommerreifenmodelle winterlichen Straßenverhältnissen als durchaus gewachsen.
Hätte der Gesetzgeber eine generelle Winterreifenpflicht gewünscht, so hätte er nach Ansicht der Oldenburger Richter das durch eine entsprechende Formulierung des Gesetzes klar und für jeden Autofahrer verständlich zum Ausdruck bringen können.
Da er das versäumt hat, wurde der Kläger von dem Vorwurf freigesprochen, mit falschen Reifen unterwegs gewesen zu sein. Eine Verurteilung erfolgte lediglich wegen seiner den Witterungsverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit.
Der ausführliche Text der Entscheidung kann im Wortlaut auf den Internetseiten des Gerichts nachgelesen werden.
(Quelle VersicherungsJournal 20.07.2010)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
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