Wer mit einem Kfz aus dem Grundstück heraus in die Straße einfährt, kann bei einer Kollision mit einem vorfahrtsberechtigten Radfahrer auch dann allein haften, wenn dieser vorschriftswidrig auf der Straße statt auf dem Radweg fährt. Dies stellte das Landgericht Hanau in einem Rechtsstreit nach einem Unfall fest.
Die Klägerin wollte mit ihrem Pkw von ihrem Grundstück auf eine Straße einbiegen. Sie tastete sich in die Fahrbahn ein, wobei ihr aber am Fahrbahnrand geparkte Fahrzeuge die Sicht erschwerten.
Dabei kam es zur Kollision mit einer Radfahrerin. Diese war auf der Hauptfahrspur unterwegs, obwohl es an der Unfallstelle einen kombinierten Fahrrad-/Fußgängerweg gemäß Zeichen 241 StVO gibt.
Aufgrund dessen forderte die Pkw-Lenkerin Schaden- und Anwaltskostenersatz und die Feststellung, die Radfahrerin müsse einen Teil der materiellen Zukunftsschäden aus dem Unfall tragen.
Amtsgericht verneint Anspruch
Das Amtsgericht Hanau sah in seinem Urteil vom 6. Mai 2022 allerdings keinen solchen Anspruch gegeben. Voraussetzung für eine Haftung nach § 823 BGB wäre ein schuldhaftes Verhalten der Beklagten. Von einem solchen sei aber nicht auszugehen.
Die Radfahrerin habe zwar gegen § 2 Absatz 4 StVO verstoßen, indem sie die Hauptfahrspur benutzte. Es fehle aber am Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem Unfallereignis.
Denn die Norm diene nicht dem Schutz dessen, der von einer Grundstücksausfahrt auf die Straße einfahren will, sondern der „Verkehrsentmischung und Unfallverhütung“, Letzteres bezogen auf den fließenden Verkehr.
Landgericht sieht Verschulden allein bei der Autofahrerin
Die Autofahrerin ging in Berufung: Die Vorschrift diene der Unfallverhütung; Radfahrer müssten, sofern vorhanden, Radwege gemäß § 2 Absatz 4 StVO benutzen. Die Beklagte entgegnete: Auf dem Fahrrad habe sie eine größere Höhe als die geparkten Pkws gehabt – die Klägerin hätte sie daher sehen können, wenn sie entsprechend vorsichtig gefahren wäre.
Das Landgericht Hanau stellte sich in seinem Beschluss vom 30. August 2023 (2 S 65/22) hinter die Entscheidung des Amtsgerichts. Der Unfall sei „allein auf das verkehrswidrige Verhalten der Klägerin zurückzuführen“.
Diese sei unter Verletzung der nach § 10 Satz 1 StVO geforderten Sorgfalt von ihrem Grundstück kommend in die Straße eingefahren, ohne die Radfahrerin durchfahren zu lassen.
„Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er in der Regel in vollem Umfang für die Unfallfolgen zu haften“, so das Gericht.
§ 2 Absatz 4 StVO hat anderen Schutzzweck
Das Landgericht wies ebenfalls auf ein Fehlen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs hin: Schutzzweck des § 2 Absatz 4 Satz 2 StVO sei, Radfahrer möglichst weitgehend von der Fahrbahn fernzuhalten und dadurch eine Verkehrsentmischung und Unfallverhütung zu bewirken.
„Dazu gehört etwa die Gefährdung von Radfahrern mit nicht immer vermeidbar schwankender Fahrlinie infolge zu großer Fahrzeugdichte und zu geringen Seitenabstands, nicht aber die Gefährdung durch vermeidbare Vorfahrtsverstöße anderer Verkehrsteilnehmer […].“
Bei schlechter Sicht: Einweisung
Die Klägerin selbst habe sich zudem „ganz offensichtlich“ nicht vorschriftsmäßig verhalten: Wenn neben dem Radweg parkende Fahrzeuge die Sicht erschweren, müsse sie sich einweisen lassen.
Sie könne nicht darauf vertrauen, dass kein für sie schwer sichtbarer, weil kleinerer Verkehrsteilnehmer auf der bevorrechtigten Straße fährt.
„Anstelle der Beklagten hätte sich an der Unfallstelle auch ein Moped oder ein kleinerer Motorroller befinden können, der ebenso schwierig wahrnehmbar gewesen wäre und den Fahrradweg überhaupt nicht hätte benutzen dürfen.“
(Quelle VersicherungsJournal 27.11.2024)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
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