13.11.2006
Für lückenhafte Angaben haftet der Versicherte

Beate Becker erinnert sich noch genau an den Wortlaut: „Wenn es ab und zu mal ein wenig zwackt, dann interessiert das niemanden.“ Der Antrag auf die Berufsunfähigkeitsversicherung war schon komplett ausgefüllt, da hatte sie noch einmal nachgehakt: „Und Sie sind sicher, daß ich die Rückenschmerzen nicht angeben muß?“ Doch der Vertreter war bereits dabei, die Unterlagen in den Aktenkoffer zu räumen, und winkte ab – nicht nur zu Unrecht, sondern auch zu ihrem Schaden, wie die gelernte Verkäuferin heute weiß. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen kann sie nicht mehr arbeiten, ihre Rente bekommt sie aber bis heute nicht. Der Grund für die Weigerung des Versicherers: Frau Becker hätte die sich bereits andeutenden Probleme mit der Bandscheibe angeben müssen. Von den „Obliegenheiten“ der Versicherten sprechen dann die Versicherer gern. Am einfachsten zu übersetzen ist der Begriff „Obliegenheit“ wahrscheinlich mit Anzeigepflicht. Gemeint ist die Verpflichtung des Versicherungsnehmers, den Versicherer so aufzuklären, „daß er das zu versichernde Risiko sachgerecht einschätzen kann“, sagt Gesa Adolphs von der Alten Leipziger Lebensversicherung. „Grundsätzlich spielt das Thema Obliegenheit in allen Sparten eine Rolle.“Zugegeben, der Fall ist schon einige Jahre alt. Doch an Aktualität hat er bis heute nicht verloren. Tagtäglich, klagt nicht nur Brigitte Mayer, Versicherungsberaterin bei der Verbraucherzentrale Hessen, habe sie mit Problemen zu tun, die mit Obliegenheiten zusammenhängen – „teilweise mit katastrophalen Folgen“. Auch Svea Kuschel, freie Finanz- und Versicherungsberaterin aus München, unterstreicht: „Vielen Versicherungsnehmern ist gar nicht bewußt, welche Folgen fehlerhafte Angaben haben können.“Bei den Personenversicherungen, also allen Policen mit Todesfallschutz, allen Varianten der Krankenversicherung und der Berufsunfähigkeitsversicherung, geht es im wesentlichen um vorvertragliche Anzeigepflichten, also darum, den eigenen Gesundheitszustand richtig zu beschreiben. Bei den Schadens- und Sachversicherungen dagegen betreffen die Obliegenheiten vor allem Anzeigepflichten während der Laufzeit oder im Schadensfall. Wobei letztere den Versicherten zumeist noch weniger bekannt sind als die Anzeigepflichten bei Personenversicherungen. Theoretisch, erläutert Verbraucherschützerin Mayer, weiß vielleicht jeder, daß ein Baugerüst die Einbruchwahrscheinlichkeit erhöht, aber welcher Versicherte denkt schon daran, dies auch seiner Versicherung mitzuteilen? Müßte er aber, genauso wie beispielsweise Senioren, die im Süden überwintern, dies ihrer Versicherung melden müßten. Auch die unabsichtliche Verletzung von Obliegenheiten kann – vor allem derzeit noch – gravierende Folgen für den Versicherten haben: „Im schlimmsten Fall ist der komplette Versicherungsschutz futsch“, stellt Verbraucherschützerin Mayer klar. Allerdings laufen derzeit zwei Gesetzesinitiativen, die den Verbraucherschutz verbessern sollen, zum einen die Umsetzung der EU-Vermittlerrichtlinie Anfang 2007, die den Versicherungsmakler zu mehr Aufklärung verpflichtet, zum anderen die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes Anfang 2008. Während Verbraucherschützer die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes einhellig begrüßen, sind sie mit der geplanten Umsetzung der EU-Richtlinie, die eigentlich zum 1. Januar dieses Jahres hätte in Kraft treten müssen, nicht einverstanden. Denn dort ist zwar eine erweiterte Informationspflicht vorgesehen. Aber von dieser kann sich der Vertreter freikaufen, wenn der Versicherte durch seine Unterschrift ausdrücklich auf eine Beratung verzichtet. Außerdem soll der Umfang der Beratungsleistung von der Höhe der Versicherungssumme abhängen. Aus Sicht von Verbraucherschützern ist dies ein Unding, weil es auch sehr preiswerte Versicherungen gibt, die aber dennoch einen sehr effektiven Versicherungsschutz bieten, beispielsweise die private Haftpflicht. Greift diese nicht, weil beispielsweise aufgrund schlechter Aufklärung Obliegenheiten verletzt wurden, kann das für die Betroffenen existenzielle Folgen haben. Weitgehend positiv werden dagegen die geplanten Änderungen des Versicherungsvertragsgesetzes beurteilt. Diese sehen nämlich nicht nur eine verbesserte Beratung vor, die auch die Aufklärung über Pflichten enthalten muß, sondern auch eine verbesserte Dokumentation des Beratungsgespräches. Zwar kann der Kunde auch hier auf beides verzichten, aber dann muß er auf die nachteiligen Folgen ausdrücklich hingewiesen werden. Vor allem die Dokumentationspflicht ist wichtig, weil zwar auch die bisherige Gesetzeslage bei Falschberatung wie im Fall Beate Becker eine Haftung des Versicherungsvertreters vorsieht. Der Versicherte kann das Verschulden aber oft nicht beweisen. Noch wesentlicher sind zwei weitere Änderungen. Erstens: Tritt das neue Gesetz wie geplant in Kraft, hat der Versicherungsnehmer vor Vertragsabschluß nur solche Umstände anzuzeigen, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat. Damit muß dann nicht mehr der Versicherte entscheiden, welche Umstände für das zu versichernde Risiko wichtig sind, sondern das Versicherungsunternehmen, was „in den nächsten Wochen in allen Häusern zu einer massiven Überarbeitung der Versicherungsanträge führen wird“, vermutet Olaf Schwickert, Hauptabteilungsleiter für Recht und Steuern bei der Debeka. Außerdem wird zweitens das Alles-oder-nichts-Prinzip aufgehoben, das bislang dazu führte, daß theoretisch schon bei leichter Fahrlässigkeit der gesamte Versicherungsschutz verlorengehen konnte. Künftig müssen sich die Folgen, die der Versicherte in Kauf nehmen muß, nach der Höhe seines Verschuldens richten und dürfen auch bei grober Fahrlässigkeit nicht zum völligen Ausfall führen, sondern erst bei Vorsatz. Auch in der Versicherungsbranche steht man den geplanten Neuregelungen nicht grundsätzlich negativ gegenüber, zumal auch heute schon einige Versicherungen so vorgehen würden, damit nun aber „ein Stück Rechtssicherheit geschaffen wird“, wie Peter Präve, Leiter der Abteilung Verbraucherschutz beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, erläutert. Weniger glücklich ist die Branche allerdings darüber, daß auch die Verjährungsfristen für Obliegenheitsverletzungen herabgesetzt werden sollen.Auch ein besserer Verbraucherschutz, meint Verbraucherschützerin Mayer, dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Betroffenen selbst sich intensiver mit ihren Obliegenheiten auseinandersetzen müßten als bisher. Immer wieder, so die Expertin, stoße sie auf Klienten, die „sich vor dem Autokauf wochenlang mit irgendwelchen Motordetails befassen“, die sich aber bei der Versicherung auf lapidare Aussagen von Vertretern verließen. Dabei sei klar, daß Versicherungsvertreter die Interessen ihres Unternehmens und dazu noch eigene verfolgten. Für die Interessen des Versicherten müsse sich dieser schon selbst einsetzen. Mayers Tip: „Elementar wichtige Papiere wie Anträge auf Personenversicherungen sollte man überhaupt nicht in Anwesenheit eines Versicherungsvertreters ausfüllen – sondern allein und in Ruhe.“ Im Zweifel, betont die Expertin, müsse man sich die Zeit nehmen und die eigene Krankheitsgeschichte recherchieren. „Es ist zur Abschätzung des Versicherungsrisikos elementar wichtig, daß der Kunde alle Angaben korrekt und rechtzeitig macht“, heißt es dazu bei der Allianz. Das sieht auch Mayer so: „Ist der Fehler erst einmal passiert, läßt er sich – zumindest im Bereich der großen Personenversicherungen – kaum noch ausbügeln.“ Sprich: Wenn der Vertrag überhaupt weitergeführt werden kann, wird es zumeist – vor allem Jahre später – teuer.

(Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11.2006 Seite 27 )Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling- Versicherungsmakler- juergenzwilling@auc-zwilling.de ursulazwilling@auc-zwilling.de