07.06.2004
Eine Versicherung gegen Berufsunfähigkeit ist unverzichtbar.


Allerdings für manche hochriskante Berufe auch teuer. Rolf B. will sich gegen Berufsunfähigkeit (BU) versichern und damit eine Police erwerben, die heute nach Einschätzung von Versicherungs- und Verbraucherexperten zum Pflichtbestand in jedem Haushalt gehört. Rolf B. ist 35 Jahre alt und hat als Alleinverdiener für seine Familie ein kleines Häuschen auf dem Lande gekauft. Er arbeitet als Gleisbauer, ständig wuchtet er in gebückter Haltung schwere Lasten hoch. Sein Rücken zwackt deshalb schon seit einigen Jahren, die Schmerzen sind nicht schlimm, aber sein Arzt schließt ein Lendenwirbelsyndrom nicht aus. Das ist irreparabel – und damit ein hohes Risiko für jeden privaten BU-Versicherer.
Rolf B. muss deshalb damit rechnen, dass seine Prämie sehr hoch, also weit über hundert Euro im Monat liegt. Gut möglich, dass ihm der Versicherer eine
Ausschlussklausel anbieten wird, also dass im Falle einer Berufsunfähigkeit wegen des Rückenleidens die Versicherung nicht zahlen muss. Vielleicht wird er auch zurückgestellt, sodass die Versicherung in einem Jahr das Risiko erneut bewerten kann; womöglich hat Rolf B. ja doch kein Lendenwirbelsyndrom. Manch ein Versicherer wird ihn vielleicht sogar ganz ablehnen, denn es gibt auch Anbieter, die befürchten, dass der Kunde mit einem Prämienzuschlag oder einer Ausschlussklausel nicht zufrieden ist.
Rolf B. werden diese Lösungen wahrscheinlich nicht besonders gut gefallen. Immerhin will er doch den besten Schutz für sich und seine Familie. Doch den Versicherern kann er keinen Vorwurf machen. Im Gegensatz zu einem staatlichen Pflichtsystem muss in der freiwilligen Privatversicherung jedes zu versichernde Risiko individuell bewertet werden. Nur so funktioniert das Geschäftsmodell. Die Gleichung ist einfach: Hohes Risiko hat seinen Preis – entweder über die Prämie oder über den Ausschluss dieses Risikos." Es geht gar nicht anders, wenn die Verträge erfüllbar bleiben sollen", sagt Theo Tremmel, Aktuar beim GDV und für die Produktgestaltung mitverantwortlich. "Es ist doch nicht so, dass die privaten Versicherer Kunden ausgrenzen oder überhaupt nicht versichern wollen. Aber Gegenstand von Versicherungsverträgen können nur Ereignisse sein, die mit einer hinreichend genau kalkulierten Wahrscheinlichkeit eintreffen. Umgekehrt können solche Ereignisse nicht versichert werden, die mit Sicherheit eintreten werden oder bereits eingetreten sind." Der Aktuar bringt das Prinzip auf den Punkt: "Unternehmen wollen versichern - können das aber nur zu einem risikogerechten Preis." Dieser Meinung sind auch
Verbraucherschützer. "Die Unternehmen müssen sehen, dass sie rentabel bleiben und die Ansprüche ihrer Versicherten erfüllen", sagen selbst Experten der Verbraucherzentralen.
Daraus ergibt sich, dass Menschen wie Rolf B. mit hohem Risiko es nicht ganz leicht haben, eine BU-Versicherung nach ihren Wünschen zu bekommen. In einem harten Wettbewerb mit unterschiedlichen Annahmekriterien kann man Glück haben und einen Versicherer finden. Manch einer aber wird die Suche nach einem Anbieter erfolglos aufgeben. Tritt dann Berufsunfähigkeit ein, ist die Gefahr groß, zum Sozialfall zu werden.
Verantwortlich dafür ist der allmähliche Rückzug des Staates aus der individuellen Daseinsfür- und -vorsorge im Lichte defizitärer öffentlicher Kassen. Im Jahr 2001 hat die Bundesregierung die Erwerbsminderungsrente eingeführt und die Berufsunfähigkeitsversicherung aus dem Katalog der gesetzlichen Rentenversicherung für alle gestrichen, die nach 1961 geboren sind. Rund 16,5 Milliarden Euro hat die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente die Rentenversicherungsträger nach Angaben des Bundessozialministeriums im Jahr gekostet. Aus öffentlichen Kassen haben die Jahrgänge nach 1961 wenig zu erwarten. Die Erwerbsminderungsrente ist schon heute so gering, dass sie zum Überleben kaum ausreicht. Rund 750 Euro im Monat erhielten im Durchschnitt die rund 1,8 Millionen Empfänger der Erwerbsminderungsrente im Jahr 2002. Voll ausgezahlt wird sie jedoch nur noch, wenn der Betroffene weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann. Wer drei bis sechs Stunden schafft, bekommt die Hälfte; umgerechnet 17 Prozent des zuletzt verdienten Bruttolohns. Womöglich arbeitet ein Professor dann als Pförtner, denn im neuen Gesetz steht, dass der Betroffene auf jeden anderen Beruf verwiesen werden kann, auch wenn die Arbeit eine deutlich geringere Qualifikation als vorher verlangt. Rund 750 Millionen Euro sollte die Reform bis 2004 einsparen - noch ist nicht evaluiert, ob dieses Ziel erreicht worden ist. Sicher ist: Die Regierung schuf ein System ab, das sich mehr als 110 Jahre lang gehalten hat.
Eingeführt wurde der Schutz vor der Berufsunfähigkeit von Bismarck im Jahr 1891, damals hieß sie noch "Invalidenrente". Die ersten 20 Jahre galt sie nur für Arbeiter, später erhielten dann auch Angestellte den gesetzlich abgesicherten Schutz, jedoch nicht vor der "Invalidität", sondern vor der "Berufsunfähigkeit". Die Gesellschaftsschichten spiegelten sich auch in der Versicherungssprache wieder. Erst mit der großen Rentenreform 1957 wurden die begrifflichen Unterschiede beseitigt und das System der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit eingeführt, das bis 2000 Bestand haben sollte.
Im Kern sah es vor, dass Betroffene bereits eine Rente erhielten, wenn sie in ihrem ausgeübten Beruf nicht mehr arbeiten konnten und entsprechend ihres Einkommensverlustes eine Rente bekamen und nicht auf Grund ihrer verminderten Arbeitsleistung. Die Beiträge in die alte BU waren an die Rentenbeiträge gebunden und nicht individuell nach dem Risiko bewertet. Die privaten Versicherer können den verminderten staatlichen Schutz in vielen, aber nicht allen Fällen ersetzen. Umverteilung zwischen guten und schlechten Risiken kann nicht über die Privatversicherung erfolgen, sondern bleibt der staatlichen Sozialversicherung vorbehalten. "Versicherer haben nicht und können auch in Zukunft nicht die Aufgabe haben, sozialstaatliche Pflichten zu übernehmen", sagt Theo Tremmel.
Dennoch: Die Assekuranzen suchen nach Möglichkeiten, auch Menschen wie Rolf B. zu versichern. Eine realistische Lösung gegen Ablehnungen und hohe Prämien sind so genannte Gruppenversicherungen. Wenn Großunternehmen sich verpflichten, mindestens 90 Prozent ihrer Belegschaft zu versichern, ist die Zahl der Versicherten so groß, dass die niedrigen Risiken die hohen Risiken ausgleichen. Daher fordern heute Anbieter von Gruppenversicherungen oft nur eine eingeschränkte Gesundheitsprüfung. Einzige Bedingung: Die Zahl der Versicherten muss groß genug sein. Denn Gruppenversicherungen funktionieren wie eine Sozialversicherung in Miniaturform.
Johann S., Fallbeispiel Nummer zwei, gehört zu der überwältigenden Mehrheit der BU-Kunden, die sich mit hohen Prämien oder Ausschlussklauseln nicht herumschlagen müssen. Bis zu 75 Prozent aller Antragssteller erhalten bei großen Versicherungsgesellschaften einen BU-Schutz ohne Einschränkungen. Bei Johann S. war es problemlos, weil er einem guten Rat folgte: Er hat sich früh abgesichert. Seine Police hat er abgeschlossen als 26-Jähriger, da war er noch Student und strotzte vor Gesundheit. Die Gesundheitsprüfung war eine Formalie. Dass er eine private BU-Versicherung abschließen muss, findet er lästig, aber gerechtfertigt. Je nach Anbieter muss er zwischen 40 und 80 Euro monatlich zahlen, wenn er im Versicherungsfall eine monatliche Rente von tausend Euro kassieren will. Der Beitrag ist für ihn wirklich gut bezahlbar und die Versicherungsleistungen entsprechen denen, die Verbraucherschützer oder die Stiftung Warentest fordern. Und auch bei den Versicherern sind solche Kunden wie Johann S. gern gesehen. Sein Risiko ist nicht besonders hoch und Johann S. ein zufriedener Kunde.
Rolf B. würde das gern sein. Bisher hat er noch keinen Versicherer gefunden, der ihn absichern will, und vom Staat fühlt er sich im Stich gelassen. Dass den Versicherern sein Risiko zu hoch ist, kann er verstehen. Immerhin gehen nach Statistiken aus dem vergangenen Jahrzehnt rund acht von zehn Gleisbauern nicht wegen ihres Alters in Rente, sondern weil ihre Arbeitskraft versagt hat.
(Quelle GDV 21.05.2004)

Jürgen Zwilling
- Versicherungsmakler-
juergenzwilling@auc-zwilling.de