16.08.2021
Haftungsverteilung bei Unfall mit elfjährigem Radfahrer

Ein elfjähriges Kind trägt je nach Umständen des Einzelfalls eine Mitschuld von 50 Prozent an einem Verkehrsunfall, wenn es mit seinem Fahrrad von einem Gehweg auf eine Fahrbahn fährt. Dies trifft besonders zu, wenn seine Sicht stark eingeschränkt ist. Dies geht aus einem Urteil des Oberlandesgerichts München hervor.
Ein Junge im Alter von elf Jahren befuhr mit seinem Fahrrad vorschriftswidrig und entgegen der Fahrtrichtung einen Gehweg. Als dieser endete, wechselte er auf die Straße, um sie zu überqueren. Dabei achtete er nicht auf den Verkehr.
Ein von links kommender Autofahrer musste abrupt abbremsen. Dabei stützte er sich auf das Lenkrad. Die Folge war eine komplizierte Schulterverletzung, der eine Operation und ein langwieriger Heilungsprozess folgten.
Unfallereignis allein von dem Autorfahrer verschuldet?
Der Mann forderte Schadenersatz vom Haftpflichtversicherer des Jungen. Dieser lehnte jedoch eine Zahlung mit dem Argument ab, sein Pkw sei aus der Perspektive des Jungen nicht erkennbar gewesen, denn dessen Sicht nach links sei stark eingeschränkt gewesen. Der Autofahrer ging vor Gericht.
Das in erster Instanz mit dem Fall befasste Landgericht Landshut (44 O 3499/19) lehnte seine Klage ab. Es kam zu dem Ergebnis, dass das streitgegenständliche Unfallereignis von ihm alleine verschuldet worden sei.
Unklare Sicht entlastet den Radfahrer nicht
Dem wollte sich das in Berufung mit dem Fall befasste Oberlandesgericht München nicht anschließen. Es entschied in seinem Urteil vom 3. März, dass dem 11-jährigen Jungen eine Mitschuld von 50 Prozent zuzuschreiben sei (10 U 4990/20). Denn der Junge habe gegen die Verpflichtung aus § 10 StVO verstoßen.
Demnach ist derjenige, der von einem Gehweg auf eine Fahrbahn einfahren will, verpflichtet, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Daraus folge, dass unklare Sicht den Radfahrer gerade nicht entlaste, sondern im Gegenteil besonders vorsichtiges Fahren auferlege, so die Richter in ihrer Urteilsbegründung.
Unfall durch rechtzeitiges Stehenbleiben zu verhindern gewesen
Der Beklagte wäre verpflichtet gewesen, am Ende des Gehsteigs anzuhalten und zu überprüfen, ob Verkehr komme und ob er die Straße ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer überqueren könne. Auf diese Weise hätte er den Unfall durch ein rechtzeitiges Stehenbleiben verhindern können. Der Verstoß sei unabhängig davon, ob sich nur das Vorderrad auf der Fahrbahn befunden hatte.
Ein 11-jähriges Kind verfüge über eine gemäß § 828 III BGB ausreichende Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Straßenverkehrsregeln. Es wisse insbesondere, dass es nicht ohne zu schauen von einem Gehweg aus mit einem Fahrrad einfach auf eine Straße fahren dürfe.
Hälftige Mitschuld des Klägers
Die hälftige Mitschuld des Klägers begründete das Gericht damit, dass er gegen die Verpflichtung aus § 8 StVO verstoßen habe. Angesichts der Straßenführung und der auch für ihn eingeschränkten Sichtmöglichkeiten hätte er sich in jedem Fall derart langsam annähern müssen, dass er jederzeit problemlos hätte anhalten und den Unfall vermeiden können.
Darüber hinaus habe er die Vorschrift des § 3 Absatz 2a StVO nicht beachtet. Er hätte im Verhältnis zum 11-jährigen Beklagten äußerste Sorgfalt an den Tag legen müssen. Bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte er den Beklagten als besonders geschützte Person bemerken können.
Eine Revision wurde nicht zugelassen.
(Quelle VersicherungsJournal 09.06.2021)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
- Versicherungsmakler-
juergenzwilling@auc-zwilling.de ursulazwilling@auc-zwilling.de