Der Mutter eines von Geburt an schwerbehinderten Kindes steht ein Schadensersatzanspruch zu, wenn es die behandelnden Ärzte während ihrer Schwangerschaft unterlassen haben, sie auf das Risiko der Behinderung hinzuweisen. Das gilt zumindest dann, wenn zu vermuten gewesen wäre, dass die Frau bei Kenntnis der Behinderung die Schwangerschaft abgebrochen hätte und es auch gerechtfertigt gewesen wäre. Dies erklärte das Oberlandesgericht Karlsruhe in einem Urteil vom 19. Februar 2020 (7 U 139/16).
Die Klägerin war im Jahr 2011 während einer Schwangerschaft von den Ärzten eines Krankenhauses betreut worden. Ein Jahr zuvor hatte sie bereits eine Schwangerschaft abgebrochen. Denn es war festgestellt worden, dass sie andernfalls aller Voraussicht nach ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringen würde.
Unzureichende Aufklärung
Wegen der erneuten Schwangerschaft wurden Untersuchungen durchgeführten und eine Balkenagnesie festgestellt. Dabei handelt es sich um ein Fehlen des „Balkens“ zwischen den beiden Gehirnhälften. In derartigen Fällen kommen erfahrungsgemäß zwar die meisten Kinder gesund zur Welt. In zwölf Prozent der diagnostizierten Fälle kommt es allerdings zu schweren Behinderungen.
Die Krankenhausärzte hatten die Frau zwar über das Risiko einer möglichen Verzögerung der Entwicklung, nicht aber über das einer nicht ganz auszuschließenden schweren Schädigung aufgeklärt. Daher brachte sie ihr Kind zur Welt. Es leidet seit der Geburt unter schweren körperlichen und geistigen Einschränkungen.
Klage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld
Die Mutter verklagte die Ärzte anschließend auf den Ersatz der ihr durch die Betreuung ihres schwer behinderten Kindes entstandenen und entstehenden Mehraufwendungen. Wäre ihr das Risiko einer schwerwiegenden Schädigung ausreichend bekannt gewesen, hätte sie die Schwangerschaft abgebrochen, so ihr Argument.
Weil sie wegen des Ereignisses unter schweren psychischen Folgen leide, forderte sie außerdem die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Zu Recht, Urteilten die Richter des Karlsruher Oberlandesgerichts. Sie gaben ihrer Klage statt.
Nach Behandlungsvertrag zum Hinweis verpflichtet
Nach Überzeugung des Gerichts wären die Ärzte nach dem Behandlungsvertrag dazu verpflichtet gewesen, die Klägerin auf das Risiko einer schweren Behinderung hinzuweisen. Denn nach dem vorausgegangenen Schwangerschaftsabbruch habe sie sich mit dem erkennbaren Ziel behandeln lassen, möglichst frühzeitig über mögliche Schädigungen des Kindes informiert zu werden.
Das Risiko, ein fehlgebildetes Kind zur Welt zu bringen, sie in dem entschiedenen Fall eher gering gewesen sei. Daher hätten die behandelnden Ärzte der Klägerin zwar empfehlen können, die Schwangerschaft nicht abzubrechen. Die Information über das Risiko einer schweren Behinderung durfte man ihr dennoch nicht vorenthalten.
Schwere psychische Folgen für die Mutter
Das Gericht kam nach Anhörung der Klägerin zu dem Ergebnis, dass sie bei Kenntnis des Risikos einer schweren Behinderung die Schwangerschaft abgebrochen hätte. Das sei wegen der absehbaren schweren psychischen Folgen für die Mutter – dies wurde durch einen vom Gericht befragten Psychiater bestätigt – gemäß § 218a Absatz 2 StGB auch gerechtfertigt gewesen. Der Klägerin wurde daher ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro zugesprochen.
Die Ärzte müssen den Eltern des behinderten Kindes außerdem Schadenersatz zahlen wegen der vermehrten Unterhaltsleistungen und des vermehrten Pflegeaufwandes, die gegenüber einem gesunden Kind entstehen. Dabei wurde unter anderem berücksichtigt, dass das Kind unter einer Fehlbildung der Augen leidet, der Schluckreflex schwer gestört ist und eine starke, therapieresistente Epilepsie vorliegt.
Die Richter sahen keine Veranlassung, eine Revision gegen ihre Entscheidung zuzulassen.
(Quelle VersicherungsJournal 25.02.2020)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
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