Die Eltern eines schulpflichtigen Kindes können nicht wegen der Verletzung ihrer Aufsichtspflicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn das Kind in einem verkehrsberuhigten Bereich mit seinem Fahrrad einen Verkehrsunfall verursacht. Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind das Radfahren technisch beherrscht und über die Regeln und Gefahren des öffentlichen Straßenverkehrs aufgeklärt wurde, so das Landgericht Saarbrücken in einem Urteil vom 13. Februar 2015 (13 S 153/14).
Die Ehefrau des Klägers befuhr mit dessen Personenkraftwagen einen verkehrsberuhigten Bereich. Dabei kam es zu einer Kollision mit dem neunjährigen Sohn der Beklagten, der mit seinem Fahrrad nach rechts abbiegen wollte und dabei gegen den Pkw stieß.
Verletzung der Aufsichtspflicht?
Mit dem Argument, dass die Eltern des Kindes ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten, forderte sie der Kläger zum Ersatz des ihm bei dem Zwischenfall entstandenen Schadens auf.
Die Eltern bestritten eine Ersatzpflicht. Sie behaupteten, dass ihr Sohn im Radfahren geübt, von ihnen belehrt und mit der Verkehrssituation vertraut gewesen sei. Er habe schon mehrere Radtouren gemacht, wobei sie festgestellt hätten, dass er sicher die Verkehrsregeln beherrsche. Daher dürfe er auch regelmäßig allein mit seinem Fahrrad zum wöchentlichen Tischtennistraining fahren.
In dem sich anschließenden Rechtstreit stellte das Saarbrücker Landgericht zwar nicht in Frage, dass der Neunjährige rechtswidrig den Personenkraftwagen des Klägers beschädigt hat. Sie wiesen die Klage gleichwohl als unbegründet zurück.
Denn anders als das in erster Instanz mit dem Vorfall befasste Amtsgericht, vermochte das Landgericht keine Aufsichtspflicht-Verletzung der Eltern im Sinne von § 832 Absatz 1 Satz 2 BGB zu erkennen. Nur die hätte eine Haftungsverpflichtung begründet.
Entdecken von Neuland
Der Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber Minderjährigen richtet sich nach Ansicht der Richter nach dem Alter, der Eigenart und dem Charakter eines Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in der jeweiligen Situation zugemutet werden kann. „Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspflichtige nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ein Kind zu verhindern.“
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern gemäß § 1626 Absatz 2 BGB den gesetzlichen Auftrag haben, sie zu verantwortungsbewussten und selbstständig handelnden Erwachsenen zu erziehen. Das aber setzt voraus, dass Kindern sukzessive ein größerer Freiraum zum „Entdecken von Neuland“ eingeräumt wird, so das Gericht.
Stehen dem keine speziellen Gefahrenquellen entgegen, so dürfen sich daher Kinder in der Regel bereits ab dem sechsten Lebensjahr allein im Straßenverkehr bewegen. Denn zum Erlernen eines selbstständigen und umsichtigen Verhaltens im Straßenverkehr gehört nach Meinung des Gerichts die Möglichkeit, sich ohne ständige direkte Kontrolle und Anleitung im Verkehr zu bewähren.
Keine besondere Belehrung nötig
Nach Überzeugung der Richter musste in dem entschiedenen Fall davon ausgegangen werden, dass der Neunjährige das Radfahren in technischer Hinsicht beherrschte und von seinen Eltern über die Gefahren der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr belehrt worden war.
Es kommt hinzu, dass sich der Unfall in einem verkehrsberuhigten Bereich in unmittelbarer Nähe zur elterlichen Wohnung ereignet hat. Einer besonderen Belehrung des Kindes oder einer engmaschigen Überwachung bedurfte es nach Überzeugung der Richter daher nicht.
Denn der Verkehrsbereich war dem Neunjährigen ausreichend bekannt. Der Kläger geht daher leer aus. Die Richter sahen keine Veranlassung, eine Revision zum Bundesgerichtshof zuzulassen.
(Quelle VersicherungsJournal 21.07.2015)
Jürgen Zwilling und Ursula Zwilling
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