01.08.2001
Ein ganzes Jahr lang kein Deutschunterricht
Lehrermangel: Versicherungsbüro beschwerte sich bei Ministerpräsident über Unterrichtsausfall in der BBS III
MAINZ.
In Jürgen Zwillings Job kommt es oft auf jedes Wort an. Der Inhaber
eines Assekuranz- und Consultingbüros in Mainz legt deshalb auch bei seinen
Auszubildenden Wert auf genaue Formulierungen und eine ordentliche
Rechtschreibung. Umso mehr störte es den Versicherungsmann, dass seine vier
Azubis Rechtschreibschwächen zeigten. 'Ja, lernt Ihr denn so was nicht in der
Berufsbildenden Schule?', fragte er die zwei Männer und zwei Frauen im Mai.
Die Antwort: 'Nein, wir haben schon das ganze Schuljahr Religion statt
Deutsch.'
Die Nachfrage der Schüler in der Berufsbildenden Schule III ergab: Der
Deutschunterricht müsse auf Grund von Lehrermangel entfallen. Und zwar für
das gesamte Schuljahr 2000/2001 und die ganze 30-köpfige Klasse der
Versicherungskaufleute. Auch für das Schuljahr 2001/2002 sei keine Änderung
in Sicht.
Das wollten Zwilling und seine Frau Ursula, Prokuristin und Ausbildungsleiterin
des Unternehmens, nicht hinnehmen und wandten sich ans Bildungsministerium.
Es kam zunächst keine Antwort. Ende August schrieben sie an
Ministerpräsident Kurt Beck: 'Schließlich wird damit die Verpflichtung zur
ordnungsgemäßen Ausbildung grob vernachlässigt.' Die Reaktion kam prompt:
Am 11. September bat die Staatskanzlei um Geduld, am 2. Oktober meldete
sich wiederum das Bildungsministerium. Man habe sich bereits nach Eingang
des ersten Schreibens an die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Neustadt
als zuständige Schulbehörde gewandt. Trotz mehrmaliger Erinnerung sei eine
Antwort aber erst jetzt erfolgt. Darin bestätigt die Behörde die mangelnde
Unterrichtsversorgung im Fach Deutsch und begründet sie ebenfalls mit einem
Mangel an Lehrkräften. Der scheint beseitigt: 'Gleichwohl ist die ADD
beauftragt, nach den Herbstferien die Unterrichtsversorgung im Fach Deutsch
in der betroffenen Klasse sicherzustellen', so das Ministerium.
Der BBS III ist noch keine Anweisung der Schulaufsicht bekannt. Sie ist
verwundert darüber, dass sich der Betrieb nicht direkt mit der Schule in
Verbindung gesetzt hat. Schließlich versuche man, auf die Wünsche der
Unternehmen einzugehen. Fakt bleibe aber, dass generell im Schuljahr
2000/2001 acht Prozent des Unterrichts ausgefallen seien - und zwar eher
allgemein bildende statt fachspezifische Fächer. Fünf zusätzliche Lehrer seien
notwendig, um den Stundenplan für die 3800 Schüler in 176 Klassen zu 100
Prozent zu erfüllen. Im Übrigen sei die ohnehin nur eine vorgesehene
Deutschstunde in der betroffenen Klasse ersatzlos gestrichen und nicht etwa
durch Religion ersetzt worden.
Astrid Leicher